Der "Wiener Lurch"-Effekt
Verfasst: Donnerstag 14. Juli 2011, 14:32
Gestern kam die Frage auf, warum hier bei Gewitterlagen immer wieder der Begriff "Lurch"-Effekt auftaucht.
Zum Einen ist es eine wenig nett gemeinte Umschreibung der Wiener Großstadt, die einem Landmenschen wie
der "Lurch" vorkommt, also viel Beton, wenig grün (stimmt auch weitgehend, wenn man sich innerhalb des Gürtels bewegt),
dazu die Grantler und betröppelten Gesichter, gerade beim Hochnebel im Winter. Soweit der etymologische Hintergrund
(Ich schätze die schönen Seiten Wiens: Vielfältige Kunst & Kulturszene, schöne Architektur)
Ich fasse mal die Gründe zusammen, wobei Nadjap gestern im Gewitterthread eh schon einiges genannt hat - hier noch die meteorologische Erklärung dazu:
1) Die Gewitter(linien) aus Westen verhungern auf dem Weg nach Osten:
Bei einer Gewitterlage, die Wien Gewitter aus Westen bringt, herrscht - von winterlichen Sturmlagen abgesehen - immer eine Trogvorderseite mit föhniger Südströmung in den Ostalpen und lebhaftem Südostwind am Alpenostrand bei Wien. Der Föhn verhindert tagsüber lange Zeit Gewitterbildung, erst Recht im näheren Dunstkreis von Wien (Mostviertel). Meist bilden sich dann im Alpenvorland über Bayern einzelne heftige Gewitter, fast immer Superzellen, die entgegen der mittleren Höhenströmung (Südwest) nach Osten am Alpenrand entwickeln ziehen. Tagsüber nähren sie von der Energie, die die Sonneneinstrahlung bereitstellt, und kommen dann auch oft noch superzellig im Flachgau und Innviertel an. Spätestens dann ist die Tageszeit oft schon fortgeschritten und die Gewitter werden abwinddominant, d.h. die Kaltluftentwicklung (cold pool) in Bodennähe überwiegt und erzeugt die Umwandlung der vorher kirsch/pflaumenförmigen Zelle in eine Linie oder Bogenecho.
Nun hängt es von mehreren Dingen ab, ob die Gewitter Wien erreichen
- zum Einen darf der CINH (also die Energie, die aufgewendet werden muss, um ein Luftpaket von der Wolkenuntergrenze zur Höhe freien Auftriebs zu heben) nicht zu groß sein
- damit eng verbunden sind Trockenschichten in der Höhe, die ein etwaig entstehendes Gewitter rasch austrocknen - wobei der Föhn eine gewichtige Rolle spielt, da er für Absinken und Auftrocknung sorgt
- zum Anderen darf der Trog nicht zu weit westlich nach Nordosten durchschwenken: meist bewegt sich die mittlere Höhenströmung nordostwärts über Mühlviertel und Tschechien, dorthin bewegen sich - wie gestern - die meisten Gewitterzellen. Nur besonders kräftige Gewitterzellen können rechts ausscheren (ostwärts), müssen aber genügend Energie erhalten, um das über mehrere 100 km tun zu können. Sobald die Zellen schwächeln, passen sie sich wieder der mittleren Nordostströmung an und ziehen nordwärts an Wien vorbei (vergangene Woche mehrmals passiert). Sobald die Gewitter(linie) aber aus dem Trog mit der Hebung herausläuft, also rechts ausschert, müssen die Bedingungen passen (wenig CINH, viel Energie, möglichst feucht, frühe Tageszeit).
- bestenfalls gibt es zwischen St. Pölten und Wien bzw. allgemein Mostviertel eine Neubildung, sodass sich die Distanz zwischen Gewitter und Wien verkürzt.
2) Die Druckwelle
Kräftige Gewitter über Oberösterreich, die nachfolgend nordostwärts ziehen, erzeugen je nach Niederschlagsintensität eine Outflow Boundary, die die niederschlagsgekühlte Luft mitunter hunderte km vom Gewittersystem wegtransportiert. Sie macht sich im Donauraum durch auffrischenden Westwind bemerkbar und stabilisiert die bodennahe Luftschicht.
Dies ist nicht gewitterkillend, wenn oberhalb der Grundschicht Instabilität vorhanden ist, so wie heute nacht (vgl. Wien 00 UTC), oder am 27. Mai 2011, als im östl. Flachland Nordostwind herrschte und die Gewitter von Südwesten her zogen. Wenn ein dynamisch getriggertes Hebungsfeld (Vorticitymaximum) durchgeht, kann die Gewitterbildung oberhalb der Grundschicht ("elevated") stattfinden, dann ist völlig blunzn, ob die Grundschicht bereits auskühlte und stabilisiert wurde. Vergangene Nacht reichte es nur deswegen nicht, weil der CINH immer noch zu groß war.
3) Der klassische Lee-Effekt (Absinkeffekt auf der windabgewandten Seite) des Wienerwalds
Die Outflow Boundary der Zellen vom Mostviertel kommend überströmt den Wienerwald, sinkt ab und sorgt knapp östlich von Wien für Neubildung durch Konvergenz (Westwind vs. Ostwind). Meist eilt die Shelf Cloud dann dem eigentlichen Gewitterkern weit voraus, so wie am 22.6., und jagt über Wien hinweg, ohne dass vom Wind abgesehen irgendwas passiert. Östlich von Wien ist das Absinken vorbei, mitunter reicht schon minimale Topographie (z.B. Laaer oder Wienerberg), um die Neubildungen auszulösen.
Dieser 'Wien wird übersprungen'-Effekt trat heuer allerdings auch schon auf, als die Gewitter von Osten kamen (weiß jemand das Datum?), auch da gab es über Wien ein Loch, und im Wienerwald (!) Neubildungen.
-----
Wo Wien fast immer mit Gewitter rechnen kann, ist bei Gewitterbildungen südlich von Wien und Südostströmung. Wenn das Zeug vom Nordburgenland oder Steinfeld nordwärts kriecht, wie am 5.8.10 abends, gibt es kein Hindernis, was die Gewitter aufhalten kann. Oft ist die Luftmasse dann auch energie- bzw. flüssigwasserreich, was sich entsprechend in der Blitzaktivität niederschlägt (damals ein regelrechtes Feuerwerk). Auch am 13.8.2010, als es wienweit Überflutungen gab, dürfte das Gewitter von Süden gekommen sein.
Zusammenfassend:
Gewitter, die von Westen kommen, ziehen oft nordöstlich vorbei, schicken eine stabilisierende Druckwelle (Outflow Boundary) voraus, und sterben spätestens im Lee des Wienerwalds über Wien, um sich weiter östlich neu zu formieren. Das ist der "Lurch"-Effekt.
Stabilisierung der bodennahen Luftschicht ist nur dann irrelevant, wenn die Gewitter entkoppelt von dieser entstehen, oft nachts, aber auch tagsüber (27.5.), dann können sie unabhängig der bodennahen Luftströmung (auch West bzw. Nordost) und der Bodentemperatur Wien erreichen.
Die günstigsten Bedingungen in Wien herrschen bei Höhenströmung Süd ohne bzw. mit nur schwachem föhnigen Absinken, wenn die Gewitter vom südl. Niederösterreich bzw. Nordburgenland Richtung Wien ziehen, sowie bei gradientschwachen Lagen im Mai/Juni (vgl. 4.6., 8.6.), wenn sich über Wien Konvergenzlinien entwickeln, z.T. durch Stadteffekt (Hitzeglocke, sozusagen der positive Lurch-Effekt) verstärkt, und die Gewitterbildung dann lokal mit intensivem Regen einhergeht.
***
Warum es bei manchen Squall lines aus Westen reicht, und bei manchen nicht, muss man im Einzelfall recherchieren. Meine obigen Ausführungen basieren erst auf anderthalb erlebten Sommern in Wien.
Auch hab ich nicht herausgearbeitet, warum manche Outflow Boundaries Neubildungen erzeugen und andere stabilisieren.
Zum Einen ist es eine wenig nett gemeinte Umschreibung der Wiener Großstadt, die einem Landmenschen wie
der "Lurch" vorkommt, also viel Beton, wenig grün (stimmt auch weitgehend, wenn man sich innerhalb des Gürtels bewegt),
dazu die Grantler und betröppelten Gesichter, gerade beim Hochnebel im Winter. Soweit der etymologische Hintergrund
(Ich schätze die schönen Seiten Wiens: Vielfältige Kunst & Kulturszene, schöne Architektur)
Ich fasse mal die Gründe zusammen, wobei Nadjap gestern im Gewitterthread eh schon einiges genannt hat - hier noch die meteorologische Erklärung dazu:
1) Die Gewitter(linien) aus Westen verhungern auf dem Weg nach Osten:
Bei einer Gewitterlage, die Wien Gewitter aus Westen bringt, herrscht - von winterlichen Sturmlagen abgesehen - immer eine Trogvorderseite mit föhniger Südströmung in den Ostalpen und lebhaftem Südostwind am Alpenostrand bei Wien. Der Föhn verhindert tagsüber lange Zeit Gewitterbildung, erst Recht im näheren Dunstkreis von Wien (Mostviertel). Meist bilden sich dann im Alpenvorland über Bayern einzelne heftige Gewitter, fast immer Superzellen, die entgegen der mittleren Höhenströmung (Südwest) nach Osten am Alpenrand entwickeln ziehen. Tagsüber nähren sie von der Energie, die die Sonneneinstrahlung bereitstellt, und kommen dann auch oft noch superzellig im Flachgau und Innviertel an. Spätestens dann ist die Tageszeit oft schon fortgeschritten und die Gewitter werden abwinddominant, d.h. die Kaltluftentwicklung (cold pool) in Bodennähe überwiegt und erzeugt die Umwandlung der vorher kirsch/pflaumenförmigen Zelle in eine Linie oder Bogenecho.
Nun hängt es von mehreren Dingen ab, ob die Gewitter Wien erreichen
- zum Einen darf der CINH (also die Energie, die aufgewendet werden muss, um ein Luftpaket von der Wolkenuntergrenze zur Höhe freien Auftriebs zu heben) nicht zu groß sein
- damit eng verbunden sind Trockenschichten in der Höhe, die ein etwaig entstehendes Gewitter rasch austrocknen - wobei der Föhn eine gewichtige Rolle spielt, da er für Absinken und Auftrocknung sorgt
- zum Anderen darf der Trog nicht zu weit westlich nach Nordosten durchschwenken: meist bewegt sich die mittlere Höhenströmung nordostwärts über Mühlviertel und Tschechien, dorthin bewegen sich - wie gestern - die meisten Gewitterzellen. Nur besonders kräftige Gewitterzellen können rechts ausscheren (ostwärts), müssen aber genügend Energie erhalten, um das über mehrere 100 km tun zu können. Sobald die Zellen schwächeln, passen sie sich wieder der mittleren Nordostströmung an und ziehen nordwärts an Wien vorbei (vergangene Woche mehrmals passiert). Sobald die Gewitter(linie) aber aus dem Trog mit der Hebung herausläuft, also rechts ausschert, müssen die Bedingungen passen (wenig CINH, viel Energie, möglichst feucht, frühe Tageszeit).
- bestenfalls gibt es zwischen St. Pölten und Wien bzw. allgemein Mostviertel eine Neubildung, sodass sich die Distanz zwischen Gewitter und Wien verkürzt.
2) Die Druckwelle
Kräftige Gewitter über Oberösterreich, die nachfolgend nordostwärts ziehen, erzeugen je nach Niederschlagsintensität eine Outflow Boundary, die die niederschlagsgekühlte Luft mitunter hunderte km vom Gewittersystem wegtransportiert. Sie macht sich im Donauraum durch auffrischenden Westwind bemerkbar und stabilisiert die bodennahe Luftschicht.
Dies ist nicht gewitterkillend, wenn oberhalb der Grundschicht Instabilität vorhanden ist, so wie heute nacht (vgl. Wien 00 UTC), oder am 27. Mai 2011, als im östl. Flachland Nordostwind herrschte und die Gewitter von Südwesten her zogen. Wenn ein dynamisch getriggertes Hebungsfeld (Vorticitymaximum) durchgeht, kann die Gewitterbildung oberhalb der Grundschicht ("elevated") stattfinden, dann ist völlig blunzn, ob die Grundschicht bereits auskühlte und stabilisiert wurde. Vergangene Nacht reichte es nur deswegen nicht, weil der CINH immer noch zu groß war.
3) Der klassische Lee-Effekt (Absinkeffekt auf der windabgewandten Seite) des Wienerwalds
Die Outflow Boundary der Zellen vom Mostviertel kommend überströmt den Wienerwald, sinkt ab und sorgt knapp östlich von Wien für Neubildung durch Konvergenz (Westwind vs. Ostwind). Meist eilt die Shelf Cloud dann dem eigentlichen Gewitterkern weit voraus, so wie am 22.6., und jagt über Wien hinweg, ohne dass vom Wind abgesehen irgendwas passiert. Östlich von Wien ist das Absinken vorbei, mitunter reicht schon minimale Topographie (z.B. Laaer oder Wienerberg), um die Neubildungen auszulösen.
Dieser 'Wien wird übersprungen'-Effekt trat heuer allerdings auch schon auf, als die Gewitter von Osten kamen (weiß jemand das Datum?), auch da gab es über Wien ein Loch, und im Wienerwald (!) Neubildungen.
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Wo Wien fast immer mit Gewitter rechnen kann, ist bei Gewitterbildungen südlich von Wien und Südostströmung. Wenn das Zeug vom Nordburgenland oder Steinfeld nordwärts kriecht, wie am 5.8.10 abends, gibt es kein Hindernis, was die Gewitter aufhalten kann. Oft ist die Luftmasse dann auch energie- bzw. flüssigwasserreich, was sich entsprechend in der Blitzaktivität niederschlägt (damals ein regelrechtes Feuerwerk). Auch am 13.8.2010, als es wienweit Überflutungen gab, dürfte das Gewitter von Süden gekommen sein.
Zusammenfassend:
Gewitter, die von Westen kommen, ziehen oft nordöstlich vorbei, schicken eine stabilisierende Druckwelle (Outflow Boundary) voraus, und sterben spätestens im Lee des Wienerwalds über Wien, um sich weiter östlich neu zu formieren. Das ist der "Lurch"-Effekt.
Stabilisierung der bodennahen Luftschicht ist nur dann irrelevant, wenn die Gewitter entkoppelt von dieser entstehen, oft nachts, aber auch tagsüber (27.5.), dann können sie unabhängig der bodennahen Luftströmung (auch West bzw. Nordost) und der Bodentemperatur Wien erreichen.
Die günstigsten Bedingungen in Wien herrschen bei Höhenströmung Süd ohne bzw. mit nur schwachem föhnigen Absinken, wenn die Gewitter vom südl. Niederösterreich bzw. Nordburgenland Richtung Wien ziehen, sowie bei gradientschwachen Lagen im Mai/Juni (vgl. 4.6., 8.6.), wenn sich über Wien Konvergenzlinien entwickeln, z.T. durch Stadteffekt (Hitzeglocke, sozusagen der positive Lurch-Effekt) verstärkt, und die Gewitterbildung dann lokal mit intensivem Regen einhergeht.
***
Warum es bei manchen Squall lines aus Westen reicht, und bei manchen nicht, muss man im Einzelfall recherchieren. Meine obigen Ausführungen basieren erst auf anderthalb erlebten Sommern in Wien.
Auch hab ich nicht herausgearbeitet, warum manche Outflow Boundaries Neubildungen erzeugen und andere stabilisieren.